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175 Jahre Nationalversammlung in der Paulskirche

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JahreNationalversammlung in derPaulskirche „Wir sollten den Menschen viel mehr Mitsprache geben“ Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel zu aktuellen Problemen der Demokratie und Ideen, wie eine Demokratie der Zukunft aussehen könnte Frau Professor Geißel, Sie leiten die Forschungsstelle für demokratische Innovationen. Wollen Sie die Demokratie neu erfinden? Wir erfinden sie vielleicht nicht gerade neu, aber wir schauen uns die Krise der Demokratie an, wir untersuchen demokratische InnovationenundwirentwickelnVorschläge,wie eine Demokratie der Zukunft aussehen könnte. Woran machen Sie die Krise fest? DieTeilnahmean Wahlengehtzurück, nicht nur in Deutschland, auch weltweit. Bei den letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sind 45 Prozent der Wahlberechtigten nicht wählen gegangen. Und das sind ja die Unzufriedenen, nicht die Zufriedenen. Es gibt auch eine zunehmende Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung. Erschreckend ist ebenso, dass die Anzahl der Demokratien sinkt, das heißt, immer mehr Demokratien entwickeln nicht demokratische, autokratische Tendenzen. Das klingt deprimierend. Es gibt aber auch viele ermutigende Beispiele für demokratische Weiterentwicklungen und Innovationen, etwa aus Irland oder Belgien.EspassiertwirklichvielinderWelt.Und wir,dieForschungsstelle,versuchenVisionen davon zu entwickeln, wie Demokratie zukünftig aussehen könnte. Schauen wir uns die Krise etwas genauer an. Sie haben die Ungleichheit der Beteiligung genannt. Das ist ein großes Problem in der Gesellschaft. In den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind die oberen und unterenEinkommensgruppennochgleichermaßen oft zur Wahl gegangen. Das hat sich deutlich verändert. Während die oberen Einkommensgruppen weiterhin konstant wählengehen,istdieBeteiligungderunterenEinkommensgruppen stark abgesunken. Insgesamt steigt zudem die Unzufriedenheit mit dem politischen System und dem politischen Führungspersonal. Viele fühlen sich dort nicht mehr vertreten und nicht mit ihren WünschenundBedürfnissenberücksichtigt. Weniger Beteiligung an demokratischen Wahlen, zudem ungleich verteilt zwischen den Bevölkerungsgruppen, und eine zunehmende Unzufriedenheit. Welche Folgen hat das? Beispielsweise sind die Entscheidungen, die vonPolitiker:innengetroffenwerden,stärker an den Interessen der einkommensstarken Gruppen orientiert. Es stimmt ja tatsächlich, wennsichuntereEinkommensgruppennicht mehr vertreten fühlen. Warum gehen die unteren Einkommensschichten nicht wählen, damit sie besser vertreten werden? Eben weil sie sich nicht vertreten fühlen. Also ein Teufelskreis. Absolut. Und offensichtlich verstärkt sich das noch. Die Gruppe derer, die mit Politik nichts mehr zu tun haben wollen, wächst, undsiekannleichtvonExtremistenabgegriffen werden – von Parteien, die behaupten, dieInteressenderMenschenzuvertreten,die sich sonst nicht wahrgenommen fühlen. Gibt es diese Politikverdrossenheit nur in bestimmten Gesellschaftsgruppen? Vor allem die Politikerverdrossenheit ist sehr weit verbreitet. Die Menschen wollen überwiegend in einer Demokratie leben, aber mit dem Funktionieren der Demokratie sind sie weniger zufrieden. Sie wünschen sich eine andere Form von Demokratie mit mehr Mitsprachemöglichkeiten. Können Innovationen, von denen Sie schon gesprochen haben, etwas ändern? Ja, sicher. Schauen Sie nach Irland. Dort ist man zur Einsicht gelangt, dass die Revision der Verfassung nicht nur von Politikerinnen und Politikern und Expertinnen und Experten geschrieben werden darf, sondern auch von Bürgerinnen und Bürgern. Deshalb hat das irische Parlament Bürgerräte eingesetzt, dienachdemZufallsprinzipausgewähltwurden.ManhatsoeineMini-Publicgeschaffen, die die Gesellschaft abbildet im Hinblick auf Geschlecht, Bildungsstand, Alter. Dadurch sind zwei Volksentscheide zustande gekommen, die von diesen Bürgerräten initiiert wurden: zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts und zur Homo-Ehe. Mit erstaunlichem Ergebnis. In der Tat. Beiden Volksentscheiden wurde zugestimmt. Das hätte man in einem so konservativen Land wie Irland nicht erwartet. Und ohne die Bürgerbeteiligung wäre das nicht passiert? Wahrscheinlich hätten die politisch Verantwortlichen diese Themen nicht vorangetrieben.WeilsieinihrerMehrzahlältereMänner sind, die Abtreibung als Thema nicht beschäftigt. Und sie hätten die Liberalisierung der Abtreibung ebenso wie die Homo-Ehe nicht auf die politische Agenda gesetzt, weil sie es sich mit der mächtigen katholischen Kirche nicht verderben wollten. Und sie wussten wahrscheinlich nicht, dass es in der Gesellschaft ein ausgeprägtes Interesse gibt und eine derart progressive Haltung zu entsprechendenReformen.Siewusstenesnicht, oder es interessiert sie nicht. Sie haben Belgien angesprochen ... In Ostbelgien hat man einen permanenten Bürgerrateingerichtet.ZuThemen,dieimParlamentdiskutiertwerden,gibtesjeweilseinzufällig zusammengesetztes Gremium aus BürgerinnenundBürgerndiedasThemaebenfalls erörtern und dem Parlament Empfehlungen andieHandgeben.DasisteinExperiment;wir betrachten interessiert, was dort passiert. Kann dieses Gremium mitentscheiden oder lediglich seine Meinung äußern? DasisteineganzentscheidendeFrage.DieRäte haben eine rein beratende Funktion. Aber das Parlament muss eine argumentativ begründete Rechenschaft zu den Vorschlägen des Bürgerrats abgeben. Wenn sich das Parlament also gegen die Position des Bürgerrats entscheidet, muss es öffentlich darlegen, warum es das tut. Das schafft eine große Transparenz der Entscheidungen. Auch der „Bürgerrat Demokratie“ in Deutschland hat tolle Vorschläge gemacht,aberderBundestaghatsichnurbedingt mitdenVorschlägenbefasst.Generellbleibtes beisolchenBeteiligungsformatenoftbeieinem Dankeschön und das war’s. Macht ein solches Beteiligungsverfahren nur die politischen Entscheidungen transparenter oder stärkt es auch die Demokratie in ihrer Breite? JedenfallssindEntscheidungennachvollziehbarer. Ob diese dann besser oder schlechter sind, ist auch eine Frage der Perspektive. Immerhin geht dann aber auch das Wissen und Wollen von Menschen ein, die nicht Politikerinnen und Politiker sind. Auch viele Politikerinnen und Politiker sehen das als Vorteil. So wird zum Beispiel das Parlament in Irland die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger beipolitischenEntscheidungsprozessenauch künftig beibehalten. In Frankfurt beispielsweise gibt es den Demokratiekonvent, zu dem nach dem Zufallsprinzip Menschen eingeladen wurden. Wir kennen ja solche Ideen in Deutschland schonsehrlange.DiePlanungszellenvonProfessor Peter Dienel in den 1980er-Jahren waren ein Vorläufer der Bürgerräte, die im internationalen Kontext oft als Mini-Publics bezeichnetwerden.OftfehltdabeidieRückkoppelung an die Politik, also die Pflicht der Politik, sich mit den Empfehlungen auseinanderzusetzen und Entscheidungen zu rechtfertigen. Ein weiteres Problem ist, dass diese Beteiligungsformate in der Regel insuläre Einzelprojekte sind, die dann auch nur sporadisch funktionieren. Als Politikwissenschaftlerin wünsche ich mir eine systematische Einbeziehung von Mitbestimmungsmöglichkeiten. Brigitte Geißel (60) ist Politikwissenschaftlerin und Hochschullehrerin. Sie hat 2012 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt die Forschungsstelle Demokratische Innovationen gegründet, die sie seitdem leitet. Die internationale Forschungsstelle bündelt die Expertise zu neuen Formen der Demokratie. Die Mitarbeitenden kooperieren dabei mit vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen weltweit. Sie unterstützen politisch Verantwortliche bei der Suche nach demokratischen Reformen und Neuerungen. Foto: Monika Müller Die Deutschen sind mit basisdemokratischen Abstimmungen nicht vertraut. Was etwa, wenn wir ein bundesweites Referendum hätten, Windkraft ja oder nein, Aufrüstung ja oder nein? Wäre die Gefahr nicht groß, dass aus einem emotionalen Impuls heraus auch sehr unkluge Entscheidungen getroffen würden? Ja, deshalb brauchte es für solche Entscheidungen einen langen Vorlauf, eine gute Vorbereitung.Themen,dievonderBevölkerung abgestimmtwerden,müssenvorhersehrbreit und auf allen Ebenen diskutiert werden können, damit am Ende auch eine reflektierte Entscheidung möglich ist. Es muss zum Beispiel diskutiert werden, ab welcher Wahlbeteiligung und ab welcher Zustimmungsrate Volksentscheide bindend sein sollen. Also sollen Volksentscheide bindend sein, wenn mindestens 20, 30, 40 oder 50 Prozent der Bevölkerung ihre Stimme abgegeben haben? Reicht bei der Zustimmung beispielsweise eine einfache Mehrheit? Und es wäre auch zu diskutieren, ob und wie Volksentscheide rückgängig gemacht werden können. Wir müssen einen Prozess anstoßen, der Menschen dazu bringt, sich mit Fragen, ob und wiepolitischeEntscheidungengefälltwerden sollen, intensiv auseinanderzusetzen. Sind wir damit jetzt im Bereich der demokratischen Visionen angelangt? Ja,dassinddannschondieVisionen.Wirsollten den Menschen viel mehr Mitsprache dabei geben, wie sie regiert werden. Nicht mit einerplötzlichenVolksabstimmung,sondern mit Mini-Publics, Diskussionen in den Medien, einem Deliberation Day, wie von amerikanischenKollegenvorgeschlagen,beidem an einem Tag bestimmte Themen möglichst überall diskutiert werden. Es lohnt sich, einensolchenDenkprozesseinzuleiten.Ichbin fest überzeugt davon, dass die Menschen mit etwas Unterstützung in der Lage sind, qualifiziert dabei mitzureden, wie sie regiert werden wollen. Ob sie beispielsweise wirklich solche Schuldenberge anhäufen wollen, wie das gerade auf Bundesebene geschieht. Um wirklichnachhaltigeEntscheidungenzutreffen, müssten Bürgerinnen und Bürger sehr viel intensiver darüber diskutieren, ob alle politischen Entscheidungen – auch jene mit einer Wirkdauer, die weit über eine Legislaturperiode hinausgeht – wirklich den Politikerinnen und Politikern überlassen werden sollen. Kurzum, wir brauchen eine Debatte, wie Menschen in der Bundesrepublik regiert werden wollen und welche Formate sie sich wünschen. Peter Hanack

Anzeigen-Sonderveröffentlichung Seite 27 Paulskirche – Messe Frankfurt: Wahrzeichen der Zukunft. Gratulation von Veranstaltungsort zu Veranstaltungsort