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175 Jahre Nationalversammlung in der Paulskirche

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JahreNationalversammlung in derPaulskirche Das Zentrum der Revolution Die republikanische Bewegung und das Parlament in der Paulskirche: Erfolg und Scheitern des demokratischen Aufbruchs von 1848/49 WasisteineRevolution?InDeutschlandhatte man das bisher nur aus der Halbdistanz betrachtet, vor allem im Blick nach Westen, nach Frankreich. Dass die Französische Revolution von 1789 ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung war, wusste man auch östlich des Rheins sofort: Aufhebung der Ständegesellschaft, der „dritte Stand“ erklärtsichzurNationalversammlung,dieMonarchie wird in ihre Schranken gewiesen. Aber damit nicht genug. Zu der Erfahrung der folgenden Jahre gehört, dass eine Revolution, so erschütternd ihre Ereignisse schon innerhalb weniger Wochen wirken, sichweiterradikalisiert.Nebendiepolitische, die staatsbürgerliche Gleichheit soll möglichste soziale Gleichheit treten. Auch eine parlamentarisch und rechtsstaatlich eingehegteMonarchiegenügtnichtmehr;Ludwig XVI. wurde angeklagt, verurteilt, am 21. Januar 1793 mit der Guillotine hingerichtet. In langwierigen Kriegen entfaltete sich die RevolutionalseineuropäischesEreignis.UnterdemDruckdernapoleonischenEroberung endete 1806 das Heilige Römische Reich, der tausend Jahre alte Rahmen mitteleuropäischer politischer Organisation. Ängste undHoffnungenprägtendieseUmbruchzeit: Ängste der deutschen Fürsten vor dem Sturz auch ihrer Herrschaft; Hoffnungen auf Aufbrüche und Fortschritte, von denen einige in staatliche Reformen, in Agrarreformen, in Preußen sogar in die Judenemanzipation führten. Zeit der Restauration Als Napoleon 1813 besiegt war, saßen die Fürsten wieder fest im Sattel. Preußen und Österreich wurden Führungsmächte der Restauration. Das aufmüpfige Volk sollte in Schach gehalten werden, durch staatliche Kontrolle und Pressezensur und notfalls mit militärischer Gewalt. Der Deutsche Bund, der neue föderale Rahmen des deutschsprachigen Mitteleuropas, nahm 1815 in FrankfurtamMainseinenSitz.HiertagtederBundestag: nicht etwa ein gewähltes Parlament, sondern eine Vertretung der monarchisch regierten Einzelstaaten sowie einiger elitärrepublikanisch verfasster freier Städte wie Frankfurt. Für die Liberalen, für die fortschrittlichGesinnten,garfürdiekleineMinderheit der deutschen Republikaner war das in den folgenden drei Jahrzehnten immer schwerer erträglich. Das Prinzip der Französischen Revolution ebenso wie der nordamerikanischen UnabhängigkeitundNationalstaatsgründungwar die Verbindung der Einheit der Nation mit Freiheit und Gleichheit. Politische und soziale Fortschritte ließen sich gewiss auch im kleineren Rahmen erringen, in einer Stadtgesellschaft oder in liberalen Regionen wie dem Großherzogtum Baden oder der preußischenRheinprovinz:imWesten,wodieNähe zuFrankreichspürbarunddieHerrschaftdes Adels ohnehin weniger drückend war als im ostelbischen Preußen. Aber die Erwartung einesAbschüttelnsvonabsoluterMonarchie, Beamtenherrschaft und politischer Unterdrückung knüpfte sich in den drei Jahrzehnten vor 1848 immerstärker an einen liberalen Nationalstaat,aneinfreigewähltesdeutsches Parlament. Im Juli 1830 war in Paris schon wieder Revolution – und wieder blieben die Deutschen Zuschauer, auch wenn in einigen Staaten vorübergehend Pressefreiheit gewährt oder sogar eine Verfassung verkündet wurde. Das Hambacher Fest brachte im Sommer 1832 den Optimismus der liberalen NationalbewegungzumAusdruck,aberkleinereAufstandsversuche wie der Frankfurter „Wachensturm“ auf die Haupt- und die Konstablerwachevom3.April1833scheiterten,und die Kräfte der Restauration zogen wieder die Zügel an. Es bedurfte eines dritten Anstoßes aus Frankreich, um die Revolution auch zu einem deutschen Ereignis zu machen. Dann aberzeigtesich,welcheKraftundwelcheDynamik eine solche Bewegung entfalten kann. Als aufständische Arbeiter und Studenten seitdem22.Februar1848inPariserneutBarrikaden errichteten, der Bürgerkönig Louis- Philippe bald darauf abdankte und einer Republik Platz machte, dauerte es nur wenige Tage, bis die Menschen auch in den deutschen Staaten auf die Straße gingen, wie zuerst bei einer Volksversammlung in Mannheim am 27. Februar, und „Forderungen des Volkes“ proklamierten. Die Wahl eines nationalen Parlaments gehörte von Anfang an dazu. Von hier breitete sich der Protest in den nächsten Tagen nach Osten aus, wurde AnfangMärzzueinergewaltigenBewegungund veranlasste die Regierungen, auch diejenige Preußens im fernen Berlin, zu ersten Zugeständnissen. Der Ausdruck „Märzrevolution“findetsichteilweisebisheute,obwohldie Revolution erst im Sommer des folgenden Jahres 1849 zu Ende war, nach vielfachen Wellen des Kampfes in Städten und auf dem Lande, letztlich mit ihrer gewaltsamen militärischen Niederschlagung bis hin zur Kapi- Einzug der Vorparlamentarier in die Paulskirche, 1848. Foto: ISG FFM, S7Z, Nr. 1848-20-0001 tulation der Freiheitskämpfer in der badischen Festung Rastatt vor den preußischen Truppen am 23. Juli. Vom Frühjahr 1848 bis in den Frühsommer 1849,eingutesJahr: Das beschreibt auch den Bogen der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Bei aller Anerkennung der Vielfalt revolutionärer Ereignisse, des lokalen Geschehens von badischen Dörfern bis in den preußischen Osten, von WienbisnachSchleswig-Holstein:DiePaulskirchewarschonfürdieZeitgenossendasunbestritteneZentrumderRevolution,unddas wird man heute nicht anders sehen können. Frankfurt als neutrales Gebiet Aufstandsversuche wie der Wachensturm in Frankfurt im Frühjahr 1833 scheiterten. Fotos: ISG FFM, S7Z, Nr. 1833-2-0001 Doch warum war ein nationales Parlament so wichtig? Und weshalb in Frankfurt? Aus heutiger Sicht denkt man bei der Stadt am MainsofortanihrezentraleLage,andenVerkehrsknotenpunkt. Aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts lag Frankfurt eher am westlichenRanddesDeutschenBundes.Aberdie Stadtgehörte,imsichzuspitzendenKonflikt der beiden Großmächte Preußen und Österreich, zum neutralen Gebiet des damals sogenannten Dritten Deutschlands, der Kleinund Mittelstaaten sowie der freien Städte überwiegendimWestendesDeutschenBundes.HieratmetemanfreiereLuft;hierlagein ZentrumschonderpolitischenOrganisation des untergegangenen Reiches. Dem Druck der monarchisch-bürokratischen Apparate in Berlin und Wien – und ihrer Soldaten – wollte man sich lieber nicht aussetzen. Das war, auch vor dem Hintergrund des späteren Revolutionsverlaufs, gewiss eine kluge Entscheidung. Ganz praktisch aber ging es darum, am Sitz des Deutschen Bundes präsent zu sein und hier die nicht demokratisch legitimierte Bundesversammlung durch ein gewähltes Parlament zu ersetzen – das gelang. Verkehrsgünstig lag Frankfurt vor allem für die Abgeordneten aus West- und Mittel-

Anzeigen-Sonderveröffentlichung Seite 5 Das fünf Meter hohe Gemälde der Germania auf Baumwolle, Symbol der neuen demokratischen Nation, hing während der Nationalversammlung in der Paulskirche. Foto: ISG FFM, S7Z, Nr. 1848-60-0001 deutschland, von Baden über die bayerische PfalzunddasRheinlandbisnachThüringen und Sachsen. Und das waren die Hochburgen der liberalen Bewegung! Mit der Eisenbahn konnten dennoch die wenigsten Abgeordneten nach Frankfurt anreisen, oder höchstenseinTeilstück.DerAusbaudesNetzes schritt zwar seit den frühen 1840er- Jahrenschnellvoran,abernochwarendieeinzelnenSträngeundKnotenpunktenichtmiteinander verbunden. Die Paulskirche war insoferneinParlamentzwischenTraditionund Moderne, zwischen Postkutsche und Eisenbahn.DieevangelischeGemeindeFrankfurts stelltedenerst1833eröffnetenRundbau,den damals größten Saal der Stadt, gern zur Verfügung. Er bot nicht nur Platz für die knapp 600 Abgeordneten, sondern auf den großzügigen Tribünen auch für Zuschauer, für eine parlamentarische Öffentlichkeit. Das gehörte damals mindestens ebenso sehr wie heute zum Selbstverständnis dieser Institution. Denn von der monarchischen Arkanpolitik, von der Politik der „geheimen Kabinette“ sollte sich die Volksherrschaft durch ihre Transparenz abgrenzen. Darin wiederum war die Nationalversammlung sehr modern. Grundrechten – und mit diesen Verfassungen Landtage, die anders als früher aus freien und wettbewerblichen Wahlen hervorgingen. Darin zeigte sich der Einfluss der Amerikanischen und der Französischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts. Von dort stammte auch ein weiterer Gedanke, der die Arbeit der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche grundlegend bestimmte: Dass nämlich diese frei gewählte Versammlung nicht „nur“ ein Arbeitsparlament sein, sondern zunächst eine Verfassung beraten und beschließen sollte: Die Paulskirche war alsovonvornhereineine„verfassunggebende Versammlung“, ähnlich wie 70 Jahre später, in der Revolution von 1918/19, die Weimarer Nationalversammlung – aber anders als derengereParlamentarischeRat,der1948/49 das Grundgesetz erarbeitete. Aber was hieß damals eigentlich „Vertretung des Volkes“? Zunächst eine Vertretung, die nicht auf dem Ständeprinzip beruhte: Man war nicht Abgeordneter, weil man dem hohen Adel angehörte, den Klerus repräsentierte oder eine Universität. Und doch gab es drei wichtigeEinschränkungen.Inderdamaligen Vorstellungswelt auch noch der meisten Radikalen und Republikaner konnten nur Männer wählen und gewählt werden, also über das passive und das aktive Wahlrecht verfügen. Frauen beteiligten sich, wie wir längstwissen,aktivanderRevolution,ander Basis,indenGemeinden,teilsauch,wieLouiseOtto-Peters,schreibendundvehementfür die Einbeziehung des anderen Geschlechts werbend: „Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen“ lautete das Motto ihrer Zeitung. Aber die Paulskirche war ein Männerparlament. Zweitens gab es zwar keine strengenBesitz-oderEinkommensschranken,keinen Zensus also, der nur Gutverdiener, wie wir heute sagen würden, ins Wahllokal ließ. „Selbstständigkeit“ jedoch musste gegeben sein, was im Verständnis dieser Zeit Männer ohne eigene sichere materielle Existenz ausschloss, etwa diejenigen, die von öffentlicher Armenunterstützung lebten. Und drittens lag die Altersschranke damals höher als heute, bei 21 bis 25 Jahren. Man schätzt, dass etwa 75 Prozent der in diesem Sinne erwachsenenMännerimFrühjahr1848wahlberechtigt waren. Genaue Angaben sind schwierig, weil viele Regelungen noch nicht national galten,sondernsichzwischendenStaatendes Deutschen Bundes unterschieden. Dazu gehörteauch,dassdieAbgeordnetenwahlmeistens indirekt war: Zunächst wählte man „Wahlmänner“,inderRegel vor Ort bekannte und respektierte, gut situierte Bürger mit einer gewissen politischen Erfahrung in Gemeinderat oder Landtag; diese bestimmten dann den Abgeordneten. Daraus ergab sich eine Zusammensetzung der Nationalversammlung, die eine starke Schlagseite zum Bildungsbürgertumhatte–wenigerzumBesitzbürgertum, zur „Bourgeoisie“ oder den „Geldsäcken“,wieesdamalshäufigimVolksmund hieß. Später wurde die Paulskirche häufig als „Professorenparlament“ kritisiert oder verspottet, meist aus antidemokratischer Sicht. Aufmüpfige Gelehrte Aber Professoren waren zwar, nicht anders als heute, Staatsbeamte, doch standen sie zugleich an vorderster Front des Kampfes für FreiheitundFortschritt,bishinzurAufmüpfigkeit wie im Falle des Historikers Friedrich ChristophDahlmann,der1837mitdenBrüdern Jacob und Wilhelm Grimm zu den „Göttinger Sieben“ gehörte, die wegen ihres Protests gegen die Aufhebung der Hannoverschen Verfassung 1837 entlassen wurden. Das verschaffte ihnen wiederum durchaus Popularität im Volke. Auch wenn Professoren nur eine Minderheit der Abgeordneten stellten, verweist die bildungsbürgerliche Prägung der Nationalversammlung auf ein immer noch heftig diskutiertes, ungelöstes Dilemma der Repräsentation: Soll sich im Parlament die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung spiegeln, oder kann jeder (und heute: jede) alle Interessen im Prinzip repräsentieren? Nicht unterschätzt werden darf, dass diese Interessen schon in den Wahlen und Wahlkämpfen des Frühjahrs 1848 eher parteipolitisch als ökonomisch ausgerichtet waren: Man wählte den, der die eigenen Überzeugungen vertrat, also einen Kandidaten der linken, republikanischen Seite oder des gemäßigten, konstitutionellen Lagers, das die Balance zwischen neuer Freiheit und etablierter Ordnung halten wollte. All das ging sehr schnell: die Entscheidung fürdasnationaleParlamentinFrankfurt,die Wahlen, schließlich die Eröffnung der Nationalversammlung am 18. Mai 1848. Beschleunigung, Dynamik, zeitliche Verdichtung: das ist ein wesentliches Merkmal von Revolutionen gegenüber den normalen, eher gemächlich dahinfließenden Zeiten. Bereits am 31. März trat in der Paulskirche das soge- Das Parlament in der Paulskirche mit den Zuschauerinnen und Zuschauern im Hintergrund. Foto: Gemälde von Ludwig v. Elliott, gemeinfrei Die zentrale Stellung eines Parlaments und seine Verbindung mit den Ideen von Volksherrschaft und Freiheit scheint auch aus heutiger Sicht auf der Hand zu liegen – und hat dochvielfältigeundverschlungeneWurzeln. Eine davon ist die lange Geschichte des britischen Unterhauses, des House of Commons, als Vertretung des Volkes neben der Krone, also der Monarchie, und dem Oberhaus, also dem hohen und erblichen Adel. Aber auch in Deutschland gab es in der Frühen Neuzeit Ständeversammlungen, die der Fürstzusammenrufenmusste,etwaumneue Steuern bewilligen zu lassen. Daran knüpften die süddeutschen Staaten an, die schon 1818/19 wie Baden, Bayern und Württemberg ziemlich moderne Verfassungen erhielten, auch mit einem Katalog von