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175 Jahre Nationalversammlung in der Paulskirche

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JahreNationalversammlung in derPaulskirche nannteVorparlamentzusammen,dasfreilich nicht durch allgemeine Wahlen legitimiert war,miteinemÜbergewichtvonDelegierten aus den nahegelegenen süd- und westdeutschen Regionen. Das Vorparlament traf grundlegende Entscheidungen zu den Wahlen und zu den Aufträgen der Nationalversammlung, lehnte aber, gegen das Drängen desradikalenFlügels,Festlegungenininhaltlichen Fragen ab. In etwa sechs Wochen gelang es, die Wahlen vorzubereiten und durchzuführen sowie den Großteil der Abgeordneten – andere trafen erst mit Verspätung ein – nach Frankfurt reisen zu lassen. ZugleichhattedieRevolution,seitdenersten städtischen Versammlungen Ende Februar und Anfang März, ganz andere Dynamiken entfaltet.MitteMärzkämpftenHandwerker, Arbeiter und Studenten in Berlin und Wien auf den Barrikaden gegen Soldaten; in ländlichen Regionen äußerte sich heftiger, teils gewaltsamer Protest gegen den Adel und die feudalen Lasten. Im April führte der Mannheimer Rechtsanwalt Friedrich Hecker, Wortführer der Radikalliberalen im badischen Landtag, einen bewaffneten republikanischen Aufstand an, der jedoch schnell wieder in sich zusammenfiel. Dilemma des Parlaments Im Württemberger Hof in der Altstadt traf sich das parlamentarisch-liberale linke Zentrum. Foto: gemeinfrei Wie jedes revolutionäre Parlament stand die Paulskirche also vor einem mehrfachen Dilemma: Einerseits musste man die Dynamik, den revolutionären Schwung mitnehmen, umsichgegendiealtenKräftederMonarchie durchzusetzen – andererseits sollte und konnte es nicht gar zu schnell gehen, denn ParlamentarismusbrauchtZeitundgeordnete Verfahren. Einerseits war die Rückbindung an die soziale Basis überlebenswichtig, andererseits repräsentierte die Nationalversammlung eher die gemäßigten politischen Kräfte; sie suchte eine neue Ordnung in Entschiedenheit, aber doch in Konsens und Kompromiss. Die parlamentarische Arbeit musste erst eingeübt werden – und vollzog sich doch bereits in bemerkenswerter Professionalität.EinAbgeordneterderPaulskirche, aus dem Jahr 1848 in unsere Zeit versetzt, hätte keinerlei Schwierigkeiten, die Abläufe im Deutschen Bundestag zu verstehen. Zwar gab es noch keine organisierten Parteien und aufihnenberuhendeFraktionen,abereinpolitisches Spektrum von links nach rechts, mit einem Schwerpunkt in der Mitte, war bereits deutlich erkennbar, und man traf sich und besprach sich regelmäßig mit den Gleichgesinnten in Frankfurter Hotels und Lokalen, deren Namen bald zum Inbegriff für die politische Richtung wurden: im Deutschen Hof, im Casino, im Westendhall. In der Paulskirche wurde das deutsche Parteiensystem zwar nicht erfunden, mindestens eine Zweiteilung in gemäßigte und radikale Liberale oder in liberale Opposition und regierungstreue Konservative war vielerorts bereits gut bekannt, aus der Landtagspolitik und sogar aus den Gemeinderäten. Aber die Nationalversammlung hat die Formierung politischer Richtungs- und Gesinnungsparteien doch kräftig befördert. Auch die Arbeitsformen waren modern; wie der Bundestag war schon die Paulskirche nicht nur eine Plenarversammlung, sondern erarbeitete konkreteEntwürfeundVorlagenindenAusschüssen, unter ihnen der besonders wichtige Verfassungsausschuss. Also die Verfassung, eine liberale Verfassung für ganz Deutschland, das damit als Nationalstaat konstituiert werden sollte: von Anfang an die selbst gesetzte Hauptaufgabe der Paulskirche, die schwierigste Aufgabe – und die Aufgabe, an der sie schließlich scheiterte. ZuerstkonzentriertesichdasneueParlament auf die „Grundrechte des deutschen Volkes“: Das war beeindruckend und erinnert an das Grundgesetz,dasgenauhundertJahrespäter die Grundrechte ganz an den Beginn der Verfassung stellte, also noch vor den Staatsaufbau, anders als in der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Die Arbeit war gründlich, und sie dauerte lange, wohl zu lange, auch im Vergleich mit anderen, am Ende erfolgreicherenrevolutionärenProzessender Verfassungsgebung. Schon nach sechs Wochen lag dem Plenum ein erster tragfähiger Entwurf der Grundrechte vor, doch es dauerte ein weiteres halbes Jahr, bis sie, Ende Dezember 1848, schließlich verabschiedet und als Gesetz verkündet wurden. Ähnliches gilt für den Hauptteil der Verfassung. Nach langer Ausschussberatung kam er erst im Oktober ins Plenum, und erst in den letzten Märztagen 1849 beschloss und verkündete die Nationalversammlung die „Verfassung des Deutschen Reiches“. Da war es schon zu spät. Die Kräfte der Gegenrevolution hatten sich, vor allem in Preußen und Österreich, in Berlin und in Wien, gesammelt und schnürten den Frankfurter Bestrebungen zunehmend die Luft ab, auch mit militärischen Mitteln, mit Gewalt, zuletztmiteinerbürgerkriegsähnlichen Überwältigung der letzten Bastionen der Revolution, nicht zuletzt der republikanischen Bestrebungen in Baden. Professor Paul Nolte, Jahrgang 1963, lehrt seit 2005 Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren führten ihn unter anderem nach Harvard, Chapel Hill und Oxford. Er war Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin und des Historischen Kollegs in München. Schwerpunkte seiner Arbeit waren und sind der süddeutsche Frühliberalismus bis zur Revolution von 1848/49, Stadtgeschichte nach 1945, die Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik und die Geschichte der Demokratie seit dem 18. Jahrhundert. Professor Paul Nolte Foto: FU Berlin, Wannenmacher Aber es war nicht nur die Stärke der Gegenrevolution und des Militärs, die das demokratischeVerfassungsprojektderPaulskirche scheitern ließ. In entscheidenden Fragen konnte das Parlament selbst keine Einigkeit finden; Kompromisse kamen zu spät und erwiesen sich als nicht mehr tragfähig. Da war zuerst die Frage nach den Grenzen des neuen Nationalstaates. Wie verhielt sich das zu den multinationalenReichenamöstlichenSaum Mitteleuropas, besonders zur Habsburger Monarchie? Sollten Ungarn und Slowaken TeildesneuendeutschenReichessein?Nein, das wollten sie auch gar nicht; selbst die Tschechen in Böhmen und Mähren, Teil des Deutschen Bundes, verweigerten sich der Nationalversammlung in Frankfurt. Eine Teilzugehörigkeitnurdesdeutschsprachigen Österreichs zum Reich war für Wien nicht akzeptabel. Also lief es mehr und mehr auf die „kleindeutsche“ statt die „großdeutsche“ Lösung zu, was die Großmacht Österreich erst recht in Gegnerschaft zu dem Paulskirchenprojekt brachte. Monarchie oder Republik? Das zweite große Problem war das der Staatsform:MonarchieoderRepublik?Diegroßen demokratischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts hatten sich, wie schon die Englische Revolution im Jahre 1649, des Monarchen entledigt und Republiken gegründet. Im 19. Jahrhundert verknüpfte sich der Republikanismus zunehmend mit Ängsten vor der sozialen Revolution, gar vor dem „Gespenst des Kommunismus“, von dem Karl Marx und Friedrich Engels 1848 in ihrem epochemachenden Manifest sprachen. In Europa, genauer: außerhalb Amerikas, der „neuen Welt“, waren Republiken als Organisationsform größerer Staaten – jenseits der freien Städte – überhaupt noch nicht stabil etabliert worden, auch nicht in Frankreich. Die gemäßigten Liberalen befürworteten deshalb ein Kaisertum, das nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches gut vier Jahrzehntefrüherjedochneugeschaffenwerden musste. Man entschied sich, dem preußischen König die Kaiserwürde, oder nüchterner gesprochen: die Funktion des Staatsoberhaupts, anzutragen. Das gefiel Friedrich

Anzeigen-Sonderveröffentlichung Seite 7 Wilhelm IV., ohnehin nicht für liberale Neigungen bekannt, gar nicht; er lehnte das Ansinnen am 28. April 1849 brüsk ab. Alles andere war Nachspiel. Immer mehr Staaten zogen ihre Abgeordneten aus Frankfurt ab; am 30. Mai tagte die NationalversammlungzuletztinderPaulskirche,mitweniger als einem Viertel der ursprünglichen Stärke. Um dem politischen und militärischenDruckzuentgehen,wichderRestnach Stuttgart aus und tagte dort noch für knapp zwei Wochen als „Rumpfparlament“. Die Revolutionwarvorbei,ihreVorkämpferwurden verfolgt, verurteilt, standrechtlich erschossen wie schon am 9. November 1848 derlinkeAbgeordneteRobertBlum,dersich am Aufstand in Wien beteiligt hatte. Formal war der Deutsche Bund wiederhergestellt, in ihm hatte Preußen eine Vormachtstellung gegenüber Österreich gewonnen. Immerhin war Preußen durch die Revolution Verfassungsstaatgewordenundbliebes,auchwenn das Parlament auf dem berüchtigten, extrem ungleichen Dreiklassenwahlrecht beruhte. Unter preußischer Führung, wesentlich geprägt durch Otto von Bismarck, der in der Revolution politische Statur als konservativer Monarchist gewonnen hatte, entstand 1870/71 der 1848 ersehnte deutsche Nationalstaat – weithin jedoch als ein Gegenmodellzudemliberal-parlamentarischen,demokratischen Entwurf der Paulskirche. Die Republikgründung von 1918/19 stand nicht im Zeichen Frankfurts, sondern Weimars und Berlins. Dreißig Jahre später, nach der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und der Zerstörung der Paulskirche im Bombenkrieg, setzte sich Bonn als politisches Zentrum des demokratischen und rechtsstaatlich-liberalen Neustarts gegen Frankfurt durch. Die Paulskirche wurde 1948, zum hundertjährigen Jubiläum der Nationalversammlung, im nüchternen Stil der Zeit wieder aufgebaut. In Vergessenheit geriet sie jedoch nie. Symbol einer freien Gesellschaft Eine Abbildung des charakteristischen Rundbaus, oft auch ein Bild des schwarz-rotgold ausgeschmückten Parlamentssaals, findet sich seit Jahrzehnten in beinahe allen Geschichtsbüchern. Der Name des Baus ist bis heute nahezu synonym mit der Nationalversammlung von 1848/49, ja er steht oft – verkürzt und pointierend zugleich – für die deutsche Revolution überhaupt, ihre Stärke wie ihr Scheitern. Zahllose Veranstaltungen wie die alljährliche Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels haben diePaulskirchezueinemmarkantenOrtund Symbol einer freien Gesellschaft gemacht. Nun ist sie erneut ins Zentrum der Debatten gerückt, für das Jubiläumsjahr 2023 stehen Entscheidungen an. Angesichts neuer Gefährdungen der Demokratie im 21. Jahrhundert sollen wichtige „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ als Lern- und Erinnerungsstättenaufgewertetwerden;einegleichnamige Stiftung beschäftigt sich auch mit dem Umbau der Paulskirche. Braucht es eine historische Rekonstruktion, eine bauliche Wiederannäherung an den Zustand, in dem dieNationalversammlungderRevolutionsie kannte und nutzte? Oder entspricht die nüchterne, reduzierte Ausstattung von 1948 eher unserem Verständnis von Demokratie? Wie auch immer dieser Streit ausgeht: Die historische Bedeutung der Paulskirche und ihreLebendigkeitdurchdieZeitensindziemlich unerschütterlich. Vor einem drohenden Vergessen muss sie, zum Glück, nicht bewahrt werden. Paul Nolte Eintrittskarte und Stimmzettel für das Paulskirchen-Parlament. Fotos: ISG FFM, S7Z, Nr. 1848-59-0001 BESUCHEN SIE HESSENS HERZKAMMER DER DEMOKRATIE Sehr geehrte, liebe Bürgerinnen und Bürger, die Geschichte der ersten frei gewählten Nationalversammlung, die 1848 in der Frankfurter Paulskirche tagte, lehrt uns bis heute: Wir müssen uns für die Demokratie einsetzen und ihre Werte gemeinsam bewahren. Dazu gehört auch, dass wir ihre Bedeutung für unser Leben in Frieden und Freiheit immer wieder neu vermitteln. Dieses Ziel verfolgt der Hessische Landtag mit seinen vielfältigen Angeboten zur politischen Bildung. Im Namen aller Abgeordneten lade ich Sie deshalb herzlich ein, uns im Landtag zu besuchen. Verfolgen Sie die Debatten von der Besuchergalerie, kommen Sie mit Abgeordneten ins Gespräch, besichtigen Sie das Schloss und Plenargebäude. Für Kinder und Jugendliche bieten wir außerdem besondere Formate wie Planspiele und Seminare an. Erleben Sie bei uns Demokratie zum Anfassen. © Annika List/Hessischer Landtag Die Abgeordneten und ich freuen uns auf Ihren Besuch. Ihre Präsidentin des Hessischen Landtages WEITERE INFORMATIONEN: hessischer-landtag.de / junger-hessischer-landtag.de