IM VERHÖR 6 | 7 MIT DEM ZIEL, EINSAME MENSCHEN AUS DER ISOLATION ZU HOLEN UND DAS THEMA AN DIE ÖFFENTLICHKEIT ZU BRINGEN, HABEN 40 MENSCHEN IN FRANKFURT DIE BÜRGERINITIATIVE „GEMEINSAM GEGEN EINSAMKEIT — FÜR EINE SOLIDARISCHE GESELLSCHAFT“ GEGRÜNDET: DARUNTER DER LANDTAGSABGEORDNETE UND DIPLOM- SOZIOLOGE TURGUT YÜKSEL. Interview: Constanze Kleis und Tim Wegner (Fotos) GROSSES THEMA. TROTZ ALLER CHAN- CEN, DIE ETWA DIE SOZIALEN MEDIEN AN KONTAKTMÖGLICHKEITEN BIETEN. WORAN LIEGT DAS? Die zunehmende Einsamkeit ist so etwas wie ein Nebenprodukt der Individualisierung. Die Zahl klassischer Familien hat insbesondere in den Großstädten abgenommen, Familie verteilt sich für viele wie selbstverständlich auf viele Orte. Diese Entwicklung hat sicher viele Vorzüge, insbesondere für den Arbeitsmarkt und die Flexibilität von Arbeitnehmer*innen. Aber eben auch den Nachteil einer zunehmenden Vereinzelung. IN FRANKFURT HABEN WIR NICHT NUR MEHR ALS FÜNFZIG PROZENT SINGLE- HAUSHALTE, SONDERN AUCH EINE STARKE FLUKTUATION – IST DIE BAN- KENSTADT DAMIT EINE EINSAMKEITS- HOCHBURG? Allein zu leben, bedeutet ja noch nicht, dass man auch einsam ist. Es gibt eine sehr interessante Studie, die zu dem Schluss kommt, dass im internationalen Vergleich in Italien die Einsamkeits-Quote am höchsten ist. Ausgerechnet im Land der ‚La Famiglia‘. Man kann eben auch zwischen vielen nahen Menschen sehr einsam sein. Etwa, wenn man sich nicht erwartungskonform verhält. Wenn man sich unverstanden fühlt. SIE HABEN MEHR ALS 5000 FACE- BOOK-FREUNDE UND -FREUNDINNEN, UND MACHEN AUCH NACH ALLEM, WAS MAN AUF IHREM INSTAGRAM-KANAL SEHEN KANN, NICHT GERADE EINEN EINSAMEN EINDRUCK. WIE KOMMEN SIE DENNOCH DAZU, SICH DES THEMAS ANZUNEHMEN? Es ist ein zwingendes Thema für die Politik und für die Gesellschaft. Dennoch ist die Einsamkeit in den deutschen Parlamenten nicht angekommen. Dabei gehört das Thema genau dorthin. Umso mehr seit der Pandemie. Man hat in dieser Zeit viel mit jenen gesprochen, die ohnehin lautstark unterwegs war. Aber nicht mit den Leisen, den Stillen, die alle Vorgaben eingehalten haben und somanchmal in die Einsamkeit abgerutscht sind. IST DAS NICHT VOR ALLEM EIN THEMA VON ÄLTEREN MENSCHEN, DIE JA ZUM TEIL AUCH SEHR LANGE IN DEN SENIO- RENHEIMEN IN ISOLATION GEHALTEN WURDEN? Das Thema geht durch alle Altersgruppen und alle Schichten. Auch Menschen, die vor allem Kontakte bei der Arbeit hatten oder im Sportverein, waren plötzlich allein. Ebenso sind natürlich auch Kinder und Jugendliche betroffen. WELCHE MENSCHEN HABEN SICH FÜR DIE INITIATIVE ENGAGIERT UND WAS WOLLEN SIE DA LEISTEN? Es sind Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Journalist*innen und auch Angestellte und Rentner, Rentnerinnen. Menschen, die gerade intensive Einsamkeitserfahrungen gemacht haben oder sagen, dass sie sich seit eigentlich immer einsam fühlen. Wir verstehen uns als Vernetzerinnen und Vernetzer. Unser niedrigschwelliges Kontaktangebot ist für alle offen, wir schließen niemanden aus. Wir erstellen zum Beispiel Einsamkeitsprofile. Lassen Betroffene erzählen, wie die Einsamkeit in ihr Leben kam. Auch, um zu zeigen, wie vielschichtig das Thema ist. Jeden Dienstag von 17.30 bis 20 Uhr – laden wir zum ‚Komm-Allein-Abend‘ an den ‚Babbel- Nett-Stammtisch‘ im Frankfurter Salon ein. Und machen Veranstaltungen, wie demnächst eine Lesung mit Bärbel Schäfer, die sich in ihrem neuen Buch „Avas Geheimnis – meine Begegnung mit der Einsamkeit“ ja auch intensiv mit dem Thema beschäftigt. Sie ist eine der Unterstützer*innen der Initiative. SICHER HAT DIE PANDEMIE DIE VER- EINSAMUNG NOCH EINMAL BEFEUERT. ABER SCHON VORAB WAR ES EIN ALS ICH MIT MEINEM MANN HIER IN EINEN NEUBAUKOMPLEX GEZOGEN BIN, HABEN WIR DIE NACHBARN FÜR 19 UHR ZU EINEM MEET & GREET EINGELADEN. ES KAM ABER KAUM JEMAND, WEIL DIE MEISTEN BIS 21 UHR IN IHREN BÜROS SASSEN. SIND ES AUCH DIESE ARBEITS- BEDINGUNGEN, DIE EINSAMKEIT BEFÖR- DERN? Diese Tendenz gibt es auch. Gerade in der Bankenstadt Frankfurt. Überall arbeiten junge Menschen elf, zwölf, dreizehn Stunden. Dann gehen sie zum Take-Away und nach Hause. Das ist schon eine sehr begrenzte Welt. ABER AUCH, WENN MAN ARM IST – UND ALSO KEIN GELD HAT FÜR CAFÉ-BESU- CHE, THEATER, REISEN … KOMMT MAN KAUM IN KONTAKT. IST EINSAMKEIT NICHT EIN VERTEILUNGSPROBLEM? Es ist eines, das viele Bereiche tangiert. Auch und vor allem den Städtebau. Ich votiere dafür, dass dort – wenigstens in zukünftigen Projekten – so geplant wird, dass Menschen aller Schichten, aller Altersgruppen, aus verschiedenen Kulturen, in verschiedenen Beziehungskonstellationen – Alleinerziehende, Familien, Wohngemeinschaften, in ihrem Alltag zusammenleben, sich begegnen. Auch in dem man Orte schafft, an denen man sich ohne mehr oder weniger sanften Zwang zum Konsum treffen kann.
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