In dem Varieté in der Heiligkreuzgasse, in dem die Gäste an kleinen Bistrotischen ganz nah bei den Künstlern sitzen, seien die einzelnen Körperbewegungen, die Mimik und die Ausstrahlung besonders wichtig, wichtiger noch als in einem großen Zirkuszelt, bestätigen beide Artistinnen. Diese Persönlichkeit ist es, auf die Margareta Dillinger vor allem achtet, wenn sie neue Künstler verpflichtet. „Ich sehe bei Festivals immer wieder junge Leute, die theatralische Ideen haben und viel Schnickschnack zeigen. Das berührt mich nicht.“ Sie hat das Credo derjenigen Artisten verinnerlicht, die ihr Leben ihrer Kunst widmen: „Don’t do it, if you don’t feel it – mach es erst gar nicht, wenn du es nicht fühlst.“ DER TIGERPALAST ALS TEMPORÄRE HEIMAT INTERNATIONALER ARTISTEN Derzeit hängt Alyonas Luftring im Saal des Tigerpalastes allerdings nur wenige Meter über dem Boden. Die Tische und Stühle sind an den Rand geräumt, mit Folie vor Staub geschützt. Die Scheinwerfer, in deren Licht Alyona und Diane normalerweise strahlen, sind abgehängt. Das Frankfurter Varieté macht eine verlängerte Sommerpause – immer noch wegen der Corona-Pandemie. „Bei uns ist derzeit leider gar nichts leicht“, stellt Margareta Dillinger betrübt fest. Seit der ersten zwangsweisen Schließung des Varietés am 15. März 2020 konnte es lediglich in diesem Frühjahr drei Monate lang seine Shows präsentieren. Die übrigen zwei Jahre blieb es still auf der Bühne und der Empore, auf der sonst das Liveorchester spielt. Anmutig im Luftring, selbst wenn die Seele schwer vor Sorgen ist: Alyona Pavlova. Boden vor ihr auftreffen lässt. Erst, wenn alles stimmt, arbeitet sie an ihrer Choreographie, kreiert neue Bewegungen. „Ich habe nie genug Zeit, um alles zu trainieren, was ich eigentlich möchte.“ Diane, die aus Florida stammt, hat die „The National Circus School of Montreal“ absolviert und war anschließend sechs Jahre lang als Trapezkünstlerin und Tänzerin mit dem renommierten zeitgenössischen französischen „Cirque Plume“ auf Tournee. Privat interessierte sie sich lange für den Tanz mit den Boleadoras, die ursprünglich eine Wurfwaffe der Gauchos waren. Sie fuhr immer wieder nach Argentinien, um die traditionelle Technik zu studieren, und entwickelte daraus über viele Jahre ihre eigene ausgefeilte und leicht ironische Darbietung, bei der sie seit kurzem sogar mit der Holzplatte tanzt, auf der sie zuvor die Boleadoras kreisen ließ. „Was sie macht, ist in der Varieté-Welt einzigartig“, sagt die Tigerpalast-Direktorin Margareta Dillinger, die für dessen künstlerisches Programm verantwortlich ist. Die drei Direktoren Dillinger, Johnny Klinke und Robert Mangold ermöglichten es den Artisten dennoch, in den hauseigenen Wohnungen im Hinterhaus zu leben und vor Ort zu trainieren. „Für mich war klar, dass ich das Haus geöffnet lasse für die Künstler, der Tigerpalast wurde schließlich für Artisten gegründet“, sagt Dillinger dazu. Eine kleine internationale Familie hat sich seitdem dort zusammengefunden. Artisten, die während der Coronazeit nicht arbeiten konnten und nicht wussten wohin. Die es sich darüber hinaus nicht leisten konnten, Proberäume anzumieten. „Wie sollen sie sich ihre Leichtigkeit erhalten, wenn sie ein halbes Jahr nicht trainieren können?“, fragt Dillinger. Und Alyona bestätigt, dass das Pausieren beim körperlichen Training nicht gut für die Gesundheit sei. „Außerdem verliert man das Gefühl für die Bewegungen.“ Die junge Russin wohnt fast schon seit Beginn der Pandemie im Tigerpalast. Diane, die seit 12 Jahren in Paris lebt, machte in dieser Zeit immer wieder Station in Frankfurt. Beide Künstlerinnen sind dankbar für die vorübergehende Heimat im Hinterhof der Heiligkreuzgasse, wo sie im leeren Tigerpalast jederzeit trainieren konnten. „Es fehlte uns zwar oft an Motivation, weil es keine Chance gab aufzutreten, aber wir hatten einen Platz, an dem wir sein konnten, und Leute um uns herum, die uns unterstützt haben“, sagt Alyona. „Wir hatten einen Ort, an dem
PORTRÄT 24 | 25 wir weiter kreativ sein konnten und an dem wir Gleichgesinnte fanden“, ergänzt Diane und sagt dann sehr deutlich: Sie hätte nicht gewusst, wie es sonst weitergegangen wäre in ihrem Artistenleben. Seit einigen Monaten winken nun wieder Engagements, die ihnen eine neue Perspektive geben: Alyona geht nach Frankreich und Madrid, Diane tritt im Juli beim Nachfolger des Cirque Plume auf und ist ab dem 15. September im neuen Herbstprogramm zu sehen, für das der Tigerpalast endlich wieder langfristig seine Türen öffnen will. Alyona wird nach ihren Engagements aber wohl weiterhin in die Heiligkreuzgasse zurückkehren. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat auch ihr die Heimat genommen. „Ich will frei sein. Für mich gibt es keinen Weg zurück“, sagt die Russin nur kurz und knapp dazu. In einer der anderen Artistenwohnungen sind kurzfristig Ukrainer untergekommen. Alyona hilft beim Übersetzen. „Der Krieg ist für uns noch belastender als die Corona- Krise“, berichtet Margareta Dillinger. Sie habe immer mit Künstlern aus der Ukraine und aus Russland gearbeitet. Ihre jeweilige Nationalität sei nie ein Thema gewesen. „Artisten helfen sich gegenseitig, sie sind weltweit unterwegs. Sie sind in der Regel total unpolitisch und stecken jetzt trotzdem mittendrin in diesem Krieg.“ Regelmäßig hält Dillinger Kontakt zu ihren Künstlern, zu den Ukrainern, die teilweise noch in Kiew oder Odessa ausharren, und zu Russen, die hoffen, mithilfe eines Engagements aus Moskau herauszukommen. „Wir leben von ihrer Energie. Und wir haben die Pflicht, alles zu tun, damit sie ihre Arbeit machen können.“ BILDER, DIE UNBESCHWERTHEIT UND FREUDE AUSDRÜCKEN Alyona und Diane trainieren derweil schon wieder. Ihr Ziel ist es, auch weiterhin mit ihren Körpern Bilder zu erschaffen, die Unbeschwertheit und Freude ausdrücken – selbst wenn gleichzeitig die Seele schwer vor Sorgen ist. „Man muss seine Arbeit lieben, sie ist ein großer Teil des Lebens“, erklärt Alyona, wie ihr das gelingt. Doch sie gibt zu: „Es ist ein harter Job.“ Auch sie frage sich immer wieder, warum sie ihn eigentlich mache. „Aber ich habe mich dafür entschieden und es gibt nichts anderes, was ich so liebe. Wenn ich die Begeisterung des Publikums fühle, dann ist alles andere vergessen.“ Diane-Renée Rodríguez vereint Flamenco- Rhythmen und die Wurfwaffe der argentinischen Gauchos.
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