STORY 28 | 29 DIE AKZEPTANZ PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN IST EIN QUANTENSPRUNG. ES IST EIN SEGEN FÜR DIE BETROFFENEN, WENN SICH MENSCHEN ZU IHREN LEIDEN BEKENNEN KÖNNEN. DOCH MITUNTER IST DAS ALLTAGSDENKEN DURCHPSYCHO- LOGISIERT. WAS FRÜHER VIELLEICHT MACKE ODER MAROTTE WAR, IST HEUTE IMMER SCHON AUSNAHMEZUSTAND UND ANSPRUCH AUF SCHONUNG UND VERSTÄNDNIS. Von Constanze Kleis Es war eine Städtereise mit Freundinnen. Wir hatten eine Ferienwohnung gemietet. Kaum hatten wir sie betreten, stellte eine Mitreisende schon ihre Tasche in das ruhigste aller Zimmer und verkündete: „Hier schlaf ich!“ Sie sei schließlich hypersensibel und entsprechend leide sie besonders unter Lärm. Anders als wir anscheinend groben Klötze, denen es – nach ihrer Meinung – zuzumuten sei, die Nacht an einer vierspurigen Straße zu verbringen. Wir fügten uns in unser Schicksal. Einer Hypersensiblen die quasi krankheitsbedingte Rücksicht abzuschlagen – da könnte man ja gleich ein Hundewelpen an der Autobahn aussetzen. „Zeige deine Wunde!“ lautet der Titel einer Installation von Joseph Beuys. Wir haben ihn wörtlich genommen. Wie die It-Bag, gehört die Psycho-Macke mittlerweile zu den Must-Haves. Müssen immer alle gleich ihre wunde Seele auspacken und damit SOS flaggen. Was früher vielleicht Macke oder Marotte war, ist heute immer schon Ausnahmezustand, Diagnose und also Anspruch auf Schonung und Verständnis. Der untreue Mann ist nicht etwa ein Vollpfosten, dem man dringend mal erklären sollte, dass das Leben kein Bonbonladen ist, in dem man mit dem Schlachtruf „packen sie mir alle ein!“ marschiert. Nein er ist wegen einer kalten Mutter „beziehungsgestört“. Der Kollege ist nicht einfach ein cholerischer Brüllaffe, sondern leidet unter einer „Intermittent Explosive Disorder“. Die Kollegin, die immer gerade dann kurz mal weg ist, wenn sich die Arbeit türmt, darf keinesfalls eine faule Socke genannt werden, weil sie dann neben „kurz vor Burnout“ vermutlich auch noch „Mobbing“ in ihre emotionalen Schadensmeldungen aufnimmt. Der Herzschmerz nach einer Trennung ist nicht eigentlich ziemlich normal, sondern ein Trauma. Und dann die Praktikantin, die sich heulend auf der Frauentoilette einschließt, weil sie gebeten wurde, ihren Text noch einmal zu überarbeiten. Auch sie sei hochsensibel, erklärt ihre Mutter am Telefon, als sie ihre Tochter „bis auf Weiteres“ krankmeldet. Man müsse Rücksicht nehmen und sich jedwede Kritik sparen. Wie das bei einer Praktikantin gehen soll, die sich ja quasi noch im „blutigen Laienstatus“ befinde und also hier und da schon damit rechnen muss, dass man korrigierend eingreife? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich die Zeiten vermisse, als ganze Abende lang beim Wein die Weltlage, die Kerle und die Kollegen durchsprechen konnte, ohne auch nur einmal die Worte „triggern“ oder „Traumata“ zu hören. Ich vermisse das Arschloch. Denn mal ehrlich: In 80 Prozent aller Fälle bringt man damit – wenigstens mal kurz – das Wichtigste auf den Punkt. BEFEUERT VON EINEM AUSUFERNDEN RATGEBER UND COACHING-MARKT Verstehen Sie mich nicht falsch. Sicher ist die Anerkenntnis psychischer Erkrankungen und Störungen ein Quantensprung. Es ist ein Segen für die Betroffenen und ihre Angehörigen, wenn sich Menschen, zunehmend auch prominente, zu ihren Depressionen, zu ADHS oder Angststörungen bekennen. Es verschafft Gehör und Verständnis. Andererseits ist es schon ein wenig bedenklich, wenn die Psycho-Analyse die Psychologen-Praxen verlassen hat, um in den Sozialen Medien ihr Basislager aufzuschlagen und man nun selbst am Büdchen in Rödelheim an einer Gruppentherapie teilnehmen kann (wo sich zwei Trinker kürzlich darüber einig waren, dass ihr Lebensversagen tief in ihrer
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