Die Henri-Dunant-Siedlung in Sossenheim entstand inden 1960er Jahren im Zuge des sozialen Wohnungsbaus.Die Sozialbindung ist aber längst aufgehoben.des Neuen Frankfurts gefeiert.Katharina Böttger, Kuratorin desStadtlabors, erinnert daran, worum esdamals ging: „Der Siedlungsbau desNeuen Frankfurt war ein gemeinwohlorientiertesProgramm.“ Ziel sei es gewesen,durch städtisches Handeln allenMenschen in Frankfurt unabhängig vonihrem Einkommen ein gutes Leben inerschwinglichen Wohnungen zu ermöglichen.„Das Stadtlabor untersucht, wasaus diesem Anliegen geworden ist.“Tatsächlich hat Frankfurt einebemerkenswerte sozialpolitische Baugeschichte:In mehreren Schüben istin großem Stil bezahlbarer Wohnraumgeschaffen worden. Bis zum ErstenWeltkrieg entstanden Siedlungen fürdie wachsende Industriearbeiterschaft.Im Neuen Frankfurt ab 1925 gelang es,in öffentlich-privaten Partnerschaftenbinnen weniger Jahre moderne Siedlungenam Stadtrand zu bauen unddie ärgste Wohnungsnot zu beseitigen(siehe S. 22). In den Nachkriegsjahrzehntenschlug die Stunde des staatlichgeförderten sozialen Wohnungsbaus.Vielerorts in Frankfurt errichtetenWohnungsbaugesellschaften und-genossenschaften Siedlungen mitgesetzlich geschützten Mieten. Diesesbaupolitische und -kulturelle Erbeprägt Frankfurt bis heute – etwa jede*rDritte wohnt in Frankfurt in einerSiedlung, darunter viele Geringverdienende.Doch die Zeiten haben sichgeändert.Während der Bedarf an günstigemWohnraum wächst, schrumpft dasAngebot rapide. Auch für bislangerschwingliche Wohnungen in Siedlungensind die Preise stark gestiegen, vielebefinden sich zudem in schlechtemZustand. Für Besserverdienende sinddie Frankfurter Mietpreise unschön.Für alle anderen sind sie existenziell.Der Wohnungsforschung zufolge wirdes kritisch, wenn mehr als 30 Prozentdes Haushaltseinkommens für die Nettokaltmieteaufgewendet werden muss.Dann müssen an anderer Stelle, sei esbei Freizeit oder Ernährung, Abstrichegemacht werden. Wer das vermeidenwill, muss enger zusammenrücken– oder immer weiter raus ziehen. DieWohnungskrise erzeugt Armut undführt zu sozialer Verdrängung.Was läuft so dramatisch schief?Das Stadtlabor untersucht dies exemplarischan drei Siedlungen: die Siedlungan der Knorrstraße aus dem späten 19.Jahrhundert, die Carl-von-Weinberg-Siedlung im nördlichen Westend ausden frühen 1930er Jahren und dieHenri-Dunant-Siedlung in Sossenheimaus den 1960er Jahren. KuratorinBöttger erklärt: „Alle drei waren einstgemeinnützig, sind aber inzwischenprivatisiert. Alle wurden oder werdenaktuell saniert. Und in allen gab odergibt es Proteste der Bewohner*innen.“Der letzte Punkt ist wichtig, weil es indem partizipativen Ausstellungsformatnicht nur darum geht, objektive Entwicklungennachzuzeichnen. Angelina18
Schaefer, auch sie ist Kuratorin des Projekts,sagt es so: „Uns interessieren dieErfahrungen der Menschen, die in denSiedlungen leben: Welche Geschichtenhaben sie über die Gebäude und überihre Kämpfe um die Bezahlbarkeit undQualität ihrer Wohnungen zu erzählen?“Um das herauszufinden, war dasMuseumsteam 2024 auf einer Sommertourin den Siedlungen unterwegs.Und die Ausstellung wird in einemgemeinsamen Prozess erarbeitet, mitBewohner*innen, Aktivist*innen undWissenschaftler*innen – wie TabeaLatocha. Die Humangeografin erforschtan der Goethe-Uni zusammen mitSebastian Schipper die Entwicklungvon Frankfurter Siedlungen, die laufendeStudie hat gar den Impuls für dasStadtlabor gegeben.Latocha nimmt sich Zeit für einenOrtstermin an der Carl-von-Weinberg-Siedlung. Treffpunkt ist eine verkehrsumtosteKreuzung an der Miquelallee.Hier, damals auf der „grünen Wiese“,haben die städtische ABG und dieWohnungsbaugesellschaft der I.G.Farben Anfang der 1930er Jahre ineinem späten Projekt des Neuen Frankfurtsmit dem Bau der fünfstöckigenSiedlungsblocks begonnen. Von derMiquelallee aus verlaufen mehrereSträßchen parallel Richtung Norden.Über Jahrzehnte ließ es sich in denRiegeln gut und preiswert wohnen,geschützt durch das Gesetz über dieWohnungsgemeinnützigkeit: Diesesbegünstigte gemeinwohlorientierteWohnungsunternehmen steuerlich,wenn sie sich zum Bau und Erhalt vondauerhaft preiswertem Wohnraumverpflichteten. „Die Wohnungsgemeinnützigkeitbegrenzte sowohl die Mieteals auch den Gewinn der Eigentümer.Überschüsse mussten in den Erhalt desBestandes investiert werden“, erklärtLatocha. Doch 1989 war damit Schluss.Unter einer schwarz-gelben Bundesregierungwurde das Gesetz einfachgestrichen. Damit war der Dammgebrochen: Das bislang geschützte„Gemeingut Wohnung“ wurde zur heißbegehrten Ware auf einem liberalisiertenMarkt. Konzerne witterten ihreChance und schlugen zu. In den Folgejahrenwurden gewaltige Bestände anprofitorientierte Wohnungsunternehmenveräußert.Über Umwege gelangte die Carlvon-Weinberg-Siedlungin die Händeder Vonovia, dem größten börsennotiertenWohnungsunternehmen desLandes, so berühmt wie berüchtigt.An der Siedlung könne man sehen,„welch Sündenfall die Abschaffungder Wohnungsgemeinnützigkeitwar“, sagt Latocha. Sie macht aufdie Rückseite eines Siedlungsblocksaufmerksam. Von den Balkonen bröckeltder Putz. In vielen Wohnungender Siedlung habe sich Schimmelausgebreitet, einige seien quasiunbewohnbar. Warum aber hält einKonzern seine Liegenschaften nichtinstand? „FinanzmarktorientiertenGegen die Mieterhöhungen in der Siedlung Kruppstraße imGallus haben sich Mieter*innen gewehrt. Die sozialeVerdrängung in der Nachbarschaft konnten sie nicht aufhalten.19
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